Dr. Marc Beise leitet seit 2007 die Wirtschaftsredaktion der Süddeutschen Zeitung. Schon als Schüler war Journalist sein Berufswunsch – und auch der Schwerpunkt auf Wirtschaft und Wirtschaftspolitik zeichnete sich schnell ab. Im Urlaub, wenn andere Bücher lesen, schreibt er welche.
Herr Beise, die enge Fokussierung auf Umsatz und Gewinnmaximierung steht aktuell deutlich in der Kritik. Zunehmend mehren sich wieder die Fürsprecher des Stakeholder Value Ansatzes. Im Sommer 2019 etwa haben 200 US-Unternehmen dazu aufgerufen, sich vom Shareholder Value zu lösen. Wie sehen Sie dieses Thema?
Ich finde das sehr spannend – und es ist gut, dass es eine amerikanische Initiative ist, denn der Gedanke des Shareholder Value kam ja aus den USA und wurde dort am stärksten pervertiert. In Europa und speziell in Deutschland wurde der Shareholder-Value-Gedanke nie so exzessiv gelebt.
Ist der generelle Ansatz des Stakeholder Values auch wirtschaftlich sinnvoll? Denn Shareholder Value kam ja nicht von ungefähr.
Die schnelle Antwort lautet ja. Auch beim Stakeholder Value werden die Interessen der Aktionäre und Eigentümer berücksichtigt. Aber eben nicht nur, sondern auch die Interessen der Mitarbeiter, der Kunden und der Gesellschaft. Das halte ich unbedingt für den richtigen Ansatz, denn Unternehmen sind Teil der Gesellschaft, leben von ihr und müssen ein ureigenes Interesse daran haben, einen positiven Beitrag zu leisten. Zugespitzt lautet der Unterschied des Stakeholder-Ansatzes zum Shareholder-Ansatz: Das Bewusstsein, dass man Teil des gesellschaftlichen Ganzen ist und sich dafür engagieren muss.
Ist die Situation in Deutschland auch deshalb anders, weil der Mittelstand hier eine wichtigere Rolle spielt?
Auch. Denn ein Mittelstandsunternehmen, das etwa in einer mittelgroßen Stadt beheimatet und dort vielleicht der größte Arbeitgeber ist, nimmt täglich wahr, dass es Teil dieses großen Ganzen ist. Leider gibt es einige Menschen, die das nicht begreifen, denen der selbstverständliche moralische Kompass fehlt. Bei einer Spitzenkraft in der Wirtschaft setze ich ihn allerdings voraus.
Und nehmen Sie dieses Verständnis wahr?
Es gibt diesen Kompass heute mehr als früher. Ich sehe auch tolle Ansätze in vielen Unternehmen. Sie unterstützen soziale Initiativen, schaffen für ihre Mitarbeiter Freiräume für soziales Engagement und vieles mehr. Mittel- und langfristig rechnet sich das vermutlich sogar, weil es das Image und die Mitarbeitermotivation verbessert und Unternehmen auch bessere Mitarbeiter bekommen.
Müssen Unternehmen für sich neu definieren, was erstrebenswertes Wachstum bedeutet?
Unbedingt. Es muss immer wieder überprüft werden in einem Unternehmen, ob die Geschäfte, die zu diesem Wachstum führen, ethisch vertretbar sind oder nicht. Etwa, ob ihre Lieferkette ethisch vertretbar ist, ihre Steuerstrategie, ihr Umgang mit Arbeitsplätzen. Das gilt auch für die US-Initiative: Ich werde aufmerksam beobachten, ob das mehr ist als ein Lippenbekenntnis. Was diese Manager konkret unternehmen, um ihr Geschäft ethisch aufzuwerten. Es geht darum, eine wirkliche Haltung zu zeigen, nicht um einzelne Maßnahmen. Dann kann dieses Verhalten auch systemstabilisierend für die Marktwirtschaft wirken.
Inwiefern?
Ich bin ein konsequenter Anhänger der Marktwirtschaft und überzeugt, dass Unternehmen die Freiheit haben sollten, sich im freien Spiel der Kräfte zu entwickeln. Das setzt aber neben korrektem Verhalten Akzeptanz und Vertrauen voraus – und davon ist in den letzten 20 Jahren viel verloren gegangen. Wenn es jetzt gelingen sollte, durch diese Neuorientierung das Vertrauen in die Marktwirtschaft wieder zu stärken, wäre das ein wunderbarer Erfolg.
Bildquelle: Christian Krinninger Photography