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Von der Aufgabe, 690 Millionen Leben zu verändern

Er hat mit seiner Idee über 25 Millionen Euro Spenden gesammelt, sie hat Wege aufgezeigt, für Nahrung in Gegenden zu sorgen, wo sonst nichts wächst. Heute fördern beide mit dem Innovation Accelerator des UN WFP Start-ups gegen den Hunger weltweit.

Würden alle Menschen, die noch heute keinen Zugang zu ausreichend Nahrung haben, einen eigenen Staat bilden, er wäre der drittgrößte der Welt. Denn 690 Millionen Menschen leiden weltweit an Hunger und Mangelernährung. Dennoch: Die Aufgabe, alle Menschen zu ernähren, ist lösbar. Das UN World Food Programme (WFP) hat sich daher das Ziel „Zero Hunger“ bis zum Jahr 2030 gesetzt.

Wer diesen Kampf für eine Welt ohne Hunger beobachten möchte, der muss lediglich einen unscheinbaren Hinterhof im Herzen Münchens aufsuchen. Direkt über der Stube einer großen regionalen Bäckerei kleben Gründer bunte Post-its an gläserne Stellwände, sitzen vertieft in Spreadsheets an ihren Laptops und diskutieren in Meetingräumen ihre Ideen. Sie alle entwickeln Innovationen und Geschäftsmodelle, die ein gemeinsames Ziel verfolgen: Die Welt von Hunger zu befreien.

Innovationen gegen den Hunger weltweit

Gefördert werden die Start-ups vom Innovation Accelerator des WFP. „Wir suchen ganz gezielt innovative Unternehmen, die mit ihren Produkten Menschen in Not helfen und einen Beitrag leisten, den Hunger weltweit zu beenden“, sagt Bernhard Kowatsch, Leiter des Innovation Accelerators. „Unser Ziel ist es, die Gründer in ihrer Mission zu unterstützen und dafür zu sorgen, dass möglichst viele Menschen von ihren Ideen profitieren.“ Mit seinen Kollegen wählt er diese Projekte aus mittlerweile hunderten Einreichungen aus. Die vielversprechendsten Teams werden dann über fünf Tage in einem Bootcamp auf Herz und Nieren geprüft – und ihre Ideen optimiert.

Haben sich die Gründer ausreichend mit ihrer Zielgruppe befasst? Wie sieht die Produkt-Roadmap aus? Wie kann das Team die Idee nachhaltig skalieren? Wessen Start-up auch diese Auswahlstufe meistert, wird in das Sprint-Programm aufgenommen und darf sich im Praxiseinsatz beweisen. „Wir unterstützen die Teams in dieser Phase mit unserer Expertise, mit finanziellen Mitteln und mit dem Zugang zu unserem Netzwerk, sowohl in die Privatwirtschaft, als auch zu Missionen der Vereinten Nationen“, sagt Kowatsch. 60 Start-ups haben dieses Sprint-Programm bisher durchlaufen.

Kowatsch weiß, wovon er spricht, wenn er über Innovationen für den humanitären Sektor spricht. Als er 2014 die interne Beratung des Welternährungsprogramms mitaufbaute, kam ihm die Idee für ein Projekt, das später der Showcase für das Potenzial von Innovationen für das WFP werden sollte: „Ein Freund und ich waren damals überrascht zu erfahren, dass es gerade einmal 70 Cent braucht, um ein Kind in einem Krisengebiet einen Tag lang zu ernähren.“ Ein Fakt, der – so vermuteten die beiden damals – viele zum Spenden motivieren könnte. Mit drei einfachen Schritten wollten sie die grundsätzliche Bereitschaft in tatsächliche Spenden umwandeln.

Wenn wir den Hunger in der Welt nachhaltig besiegen möchten, dann brauchen wir innovative Ansätze und Ideen in der humanitären Hilfe.“

„Erstens, die Menschen müssen wissen, dass sie mit nur 70 Cent schon etwas erreichen können. Zweitens, wir müssen ihnen transparent zeigen können, wo und wofür wir die Spenden einsetzen. Und drittens, spenden muss einfach sein.“ Die Idee zu ‚SharetheMeal‘ war geboren. Eine App, mit der Nutzer mit wenigen Klicks 70 Cent oder mehr für Projekte des WFP zu spenden, und so „Mahlzeiten“ mit Kindern teilen können.

Um ‚SharetheMeal‘ Wirklichkeit werden zu lassen, musste Kowatsch aber zuerst das UN World Food Programme verlassen. Zwar hatte seine Idee zur App intern viele Fürsprecher, „aber es gab innerhalb der Organisation damals einfach noch keine Möglichkeit, eine solche Innovation auch umzusetzen“. So entschied sich Kowatsch, gemeinsam mit einem Freund die App auf eigene Faust zu entwickeln und sich voll und ganz auf ‚ShareTheMeal‘ zu konzentrieren. Der Erfolg gab ihm Recht: Über 25 Millionen Euro an Spenden konnte ‚ShareTheMeal‘ bis heute generieren. Noch während der Arbeit an ‚ShareTheMeal‘ schrieb er das erste Konzept für einen Innovation Accelerator zur Bekämpfung des Hungers in der Welt. „Mir war damals bei der Gründung klar, dass wir neue Ansätze und Ideen in der humanitären Hilfe benötigen, wenn wir den Hunger nachhaltig besiegen möchten.“

Von Saving Lives und Changing Lives

Wieso? Weil Hunger in den meisten Fällen anders aussieht, als ihn sich die meisten vorstellen. Er wird häufig in Verbindung gebracht mit akuten Hungersnöten, ausgelöst durch Missernten, Naturkatastrophen oder Kriegen. Doch die Wahrheit ist: 90 Prozent der 690 Millionen Menschen, die nicht genug zu Essen haben, leiden an chronischem Hunger, der durch keine konkrete oder zeitlich begrenzte Katastrophe bedingt ist.

„Beim UN World Food Programme haben wir daher zwei unterschiedliche Ausrichtungen unserer Hilfe“, sagt Kowatsch. „Einmal Saving Lives. Diese Hilfe ist unerlässlich, sie hilft Menschen in akuten Notsituationen und rettet so Leben. Auf der anderen Seite haben wir die Ausrichtung Changing Lives. Hier geht es uns darum, Menschen zu ermöglichen, selbst für die eigene Lebensgrundlage zu sorgen. Vor allem diese Projekte bringen uns unserem Ziel ‚Zero Hunger‘ näher.“

Nahrung für Gegenden, in denen sonst nichts wächst

„Ich bin fest davon überzeugt, dass es nur einen Schlüssel zu einer Welt ohne Hunger gibt, und dieser Schlüssel heißt Hilfe zur Selbsthilfe.“ Nina Schröder ist Head of Scale-Up-Enablement beim Innovation Accelerator. Sie kommt immer dann mit ihrem Team ins Spiel, wenn sich Projekte des Accelerators im Praxiseinsatz bewiesen haben. Schröders Aufgabe ist es dann, diese Projekte gemeinsam mit den Gründern so weiterzuentwickeln und hochzuskalieren, dass sie einer großen Menge Menschen zugänglich gemacht werden können. Und das tut sie mit großer Leidenschaft: „Ich kann meine Expertise, nämlich Unternehmen, Projekte und Ideen aufzubauen und groß zu machen, dafür einsetzen, Menschen in Not zu helfen. Das gibt mir persönlich sehr viel zurück.“

2016 kam Schröder zum Accelerator und gehört damit zu den ersten Mitarbeitern. Eines der Projekte, das sie seit den Kinderschuhen mit aufbaute, ist H2Grow. Die Idee ist einfach: In vielen Gegenden der Welt ist der Anbau von frischer, nährstoff- und vitaminreicher Nahrung aufgrund von Wassermangel unmöglich. „Dank H2Grow können Menschen Gemüse oder auch Futter für Tiere anbauen, und das mit 90 Prozent weniger Wasserbedarf.“

Ich bin fest davon überzeugt, dass es nur einen Schlüssel zu einer Welt ohne Hunger gibt. Und dieser Schlüssel heißt Hilfe zur Selbsthilfe.“

Als Schröder zum Innovation Accelerator stieß, verbrachte sie die ersten beiden Tage im Büro in München, am dritten stieg sie in den Flieger nach Lima. Eine Wüstenstadt, in der anhaltende Trockenheit Gemüse und Obst rar und damit für viele Bewohner unerschwinglich macht, insbesondere für die der Elendsviertel, wo viele Familien von Mangelernährung betroffen sind. Drei Monate hatte sie Zeit, um in der Praxis zu erproben, wie diese Menschen sich mit nahrhaftem Gemüse versorgen können.

„Die Antwort war, das Konzept der Hydrokultur für die Familien zugänglich und nutzbar zu machen. Durch Hydrokultur ist der Anbau von Pflanzen ohne Erde, mit weniger Anbaufläche möglich und sie benötigen nur zehn Prozent der Menge an Wasser, wie herkömmlich angebautes Gemüse. Außerdem sind keinerlei Vorkenntnisse aus dem Agrarbereich nötig.“

„Wie in der Privatwirtschaft ist es ganz entscheidend für den Erfolg unserer Projekte, dass wir unsere Kunden und ihre Lebensumstände verstehen, in diesem Fall, die Familien in den Elendsvierteln selbst“, sagt Schröder. Welches verfügbare Einkommen steht ihnen zur Verfügung, was sind die größten Probleme und Herausforderungen und was wollen sie verbessern? In Peru war dies eine ausgewogenere, gesündere Ernährung für die Kinder und eine zusätzliche Einkommensquelle.

Um das Projekt auf auf die jeweiligen lokalen Umstände anzupassen, muss dann jeweils wieder eine Analyse durchgeführt werden: Wie viel Anbaufläche steht den Menschen zur Verfügung, wie muss das Projekt auf das Klima vor Ort angepasst werden, welche Schulungen sind nötig? Und vor allem: Welche Pflanzen sollen angebaut werden? Welche Materialien und Rohstoffe sind lokal vorhanden, um das Projekt möglichst komplett vor Ort umsetzen zu können?

Von Peru in die algerische Sahara

Durch diesen flexiblen Human-centred Design Ansatz, funktioniert H2Grow auch in Ländern mit ganz anderen Bedingungen, unter anderem in einem seit 40 Jahren existierenden Flüchtlingscamp in der algerischen Sahara. Allerdings nicht für den Anbau von Gemüse, sondern von frischem Futtermittel für Ziegen, die sich häufig nur noch von Müll ernähren konnten. „Die Tiere sind in dieser Kultur ganz zentraler Bestandteil der Gemeinschaften und ihrer Essgewohnheiten.“

Das Ergebnis? Es verbesserten sich nicht nur die Quantität und Qualität des Ziegenfleisches, sondern die Ziegen produzierten auch fast die dreifache Menge Milch, die besonders wichtig für die Entwicklung der Kinder ist. „Das war für viele der Bewohner wie ein Wunder, wenn Du in der Wüste stehst, in der seit Jahren nichts gewachsen ist, und dann siehst Du in dieser Gegend das satte Grün der Hydrokulturen und gesunde Tiere.“ Mit diesem Ansatz wurde H2Grow bis heute in acht Ländern ausgerollt.

Lässt die gewaltige Aufgabe, die Menschheit von Hunger weltweit zu befreien, auch manchmal verzweifeln? „Kein Hunger in der Welt bis 2030 ist möglich“, antwortet Kowatsch. „Und wir sehen, dass unsere Arbeit effektiv ist, dass unsere Projekte Ergebnisse erzielen. 2019 haben eine Millionen Menschen von unseren Innovationen profitiert.“ Kowatsch entsperrt sein Smartphone, wischt kurz über den Bildschirm, öffnet die ‚ShareTheMeal‘-App und zeigt eine Zahl: 85.204.960. „So viele Mahlzeiten wurden bis heute über unsere Lösung geteilt. Wenn wir uns diese Erfolge vor Augen halten, motiviert mich das jeden Tag neu.“

Fotografie: Christian Krinninger Photography, Naim Hamidouche

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