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Risiko statt Ruhekissen

Anja Stolz hat als CMO der R+V Versicherung eines der aufsehenerregendsten und erfolgreichsten Rebranding-Projekte der letzten Jahre in Deutschland umgesetzt – ohne Auftrag oder Handlungsdruck, dafür mit einer klaren Vision.

Sich als CMO in der Probezeit an den Relaunch einer 100 Jahre alten Marke wagen? „Stimmt, das war tatsächlich recht risikofreudig“, schmunzelt Anja Stolz, die sich Anfang 2020 genau dieser Herausforderung angenommen hat. „Aber ich habe in der Marke R+V einen ungeschliffenen Diamanten entdeckt.“ Und so überzeugte Stolz den Vorstand davon, den großen Wurf zu wagen und die Markenidentität des inzwischen 100 Jahre alten Versicherungsunternehmens auf den Prüfstand zu stellen.

„Als wir mit der Planung unserer neuen Markenidentität starteten, hatte Deutschland gerade die ‚Geiz ist geil‘-Ära hinter sich gelassen. Themen wie ökonomisches Wirtschaften und soziale Nachhaltigkeit wurden immer aktueller und relevanter. Das sind alles Themen, zu denen wir als R+V etwas zu sagen haben, vor allem als genossenschaftlich organisiertes Unternehmen“, fasst Stolz die Ausgangslage zusammen. „Uns war wichtig, diesen Relaunch aus einer Position der Stärke anzugehen – und unser Unternehmen war damals wie heute kerngesund, profitabel und auf Wachstumskurs.“ 

Eine neue DNA für den Konzern

Handlungszwang gab es also keinen, dafür aber eine einmalige Gelegenheit, die sie einfach ergreifen musste: „Mit einem Update des Corporate Designs war es nicht getan. Das habe ich schon klargestellt, bevor ich die Rolle als CMO bei der R+V angenommen habe“, erzählt sie von ihrem Einstieg. „Glücklicherweise traf ich auf einen Vorstand, der sich auf meine Vision einließ, mit allen damit verbundenen Risiken.“ Denn Stolz’ Vision, die sich aus der Chance, die die Marke bot, und den gesellschaftlichen Trends nährte, führte zu nichts weniger als einer neuen DNA des kompletten Konzerns.

„Ich habe in den ersten Wochen die Marke und die Branchenbegleiter sehr genau analysiert und mir ist aufgefallen, dass sich zwar viele Versicherungsgesellschaften mit dem ‚Wir‘, also dem Gemeinschaftssinn, positionieren, das Thema der Nachhaltigkeit, der Haltung, aber für ihre Markenkommunikation noch nicht entdeckt haben.“ Und noch etwas stellte Stolz in ihrer Analyse fest: Die Markenbekanntheit der R+V Versicherung lag bei lediglich elf Prozent, der Werbedruck des Wettbewerbs dagegen war hoch. „Es ist auch Teil der Wahrheit, dass wir zuvor erfolgreich in der Deckung waren. Das in Kombination mit einer Repositionierung und einer Kampagne, die durchaus polarisiert, erzeugt also eine enorme Fallhöhe.“

Du bist nicht allein“-Momente

„Woher kommt dieses ‚Ich, ich ich‘, dieses ‚Meins, meins, meins‘?“, fragt die R+V in ihrer „Du bist nicht allein“-Kampagne und plädiert nicht nur für mehr Miteinander, sondern positioniert sich eben auch eindeutig gegen Selbstdarstellung und Egoismus. Die Botschaft ist direkt, die Sprache klar und ehrlich und die Motive – ob in Filmen, auf Plakaten oder in Anzeigen – zeigen eine diverse und inklusive Gesellschaft.

Von der Resonanz bei der internen Präsentation war ich überwältigt. Ein gestandener Vertriebsmann kam auf mich zu und fragte mich ‚darf ich Sie mal drücken?“

Wie groß der Schritt war, die Werte der R+V aktiv und mutig nach außen zu tragen, zeigte sich auch bei der internen Präsentation der Kampagne. „Ich hatte davor großen Respekt. Über tausend Vertriebsmitarbeiter:innen waren dabei, die meisten davon schon sehr lange im Unternehmen. Von der Resonanz bei der internen Präsentation war ich total überwältigt. Es flossen sogar Tränchen und ein gestandener Vertriebsmann kam anschließend auf mich zu und fragte mich ‚darf ich Sie mal drücken?‘, sowas ist mir noch nie passiert.“ Die Euphorie hält bis heute an; der untrügliche Beweis ist auch die Identifikation der Belegschaft: „Wir haben damit einen Nerv getroffen. ‚Du bist nicht allein‘ wird gelebt, die Mitarbeiter:innen identifizieren sich damit und engagieren sich, denken sich Aktionen aus, tauschen sich im Intranet aus, und schaffen ‚Du bist nicht allein‘-Momente.“

Marketing als Marktorientierte Unternehmensführung

Klar ist auch, dass sich die Markenidentität nicht abkoppeln lässt von dem, was das Unternehmen mit seinem Geschäftsmodell zu leisten im Stande ist. Für die R+V steht dabei im Mittelpunkt, das Werteversprechen einzulösen und Versicherte vor allem in Krisenzeiten nicht allein zu lassen, sei es durch kostenlose Versicherungen für Pfleger:innen oder unbürokratische Erstattungen für die Geschädigten der Flutkatastrophe an der Ahr im Jahr 2021. „All diese Dinge zeigen: die Marke funktioniert“, betont Stolz.

Das belegen auch die Zahlen: In relevanten, verkaufsnahen Metriken wie Markenbewusstsein, First Choice und Neukundengewinnung verzeichnet der Konzern deutliche Steigerungen. Darauf legt Stolz auch persönlich hohen Wert: „Marketing beschränkt sich bei mir nicht auf die Vertriebsunterstützung und auf die Kommunikation, sondern ist marktorientierte Unternehmensführung. Verstehen Sie mich nicht falsch, Kreation ist dabei ein wesentlicher Teil, aber eben nur einer. Die Marke gehört zu den wertvollsten immateriellen Assets. Darüber rede ich auch mit Controllern, die oft sagen, das sind Kosten. Ich sage: Nein, das sind Investitionen, denn Unternehmen mit einer starken Marke sind ökonomisch nachweislich erfolgreicher.“

Risiko statt Ruhekissen

Zufall ist es nicht, dass es Anja Stolz war, die sich an dieses Projekt traute. Extremskifahren, Kajak im Wildwasser, Trips in die wilde Natur Afrikas: Schon ihre privaten Leidenschaften lassen erahnen, dass sie kein Risiko scheut. Das gleiche gilt für ihre berufliche Laufbahn: Nach Start-up Erfahrung in der Dotcom-Blase machte sie sich als Beraterin selbstständig. Dass sie anschließend ausgerechnet in der eher auf Stabilität als auf Risiko ausgelegten Finanz- und Versicherungsindustrie landete, ist für sie kein Widerspruch: „Gerade in Branchen, die vielleicht etwas zurückhaltender agieren, findet man noch viel Gestaltungsspielraum.“

Wenn man viele Entscheidungen fällt, ist zwangsläufig auch mal eine falsche dabei. Doch lieber treffe ich falsche Entscheidungen, als gar keine, denn so kann man nichts bewegen.“

Wer solche Ziele erreicht hat, hat dafür allerdings einen Weg zurückgelegt, der nicht frei von Gefahren war. Eine der wichtigsten persönlichen Voraussetzungen dafür ist nach Ansicht von Anja Stolz auch Entscheidungsfreudigkeit: „Wenn man viele Entscheidungen fällt, ist zwangsläufig auch mal eine falsche dabei. Doch lieber treffe ich falsche Entscheidungen, als gar keine, denn so kann man nichts bewegen. Wichtig ist nur, immer einmal mehr aufzustehen als hinzufallen.“

Fotografie: Denis Pernath Photography

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