Seit dem Frühjahr 2020 ist die Welt vieler Jugendlicher auf den Kopf gestellt. Egal, ob es um die Schule oder den Sportverein geht oder einfach darum, Zeit mit Freund:innen zu verbringen. Die sonst so gern beschworene „Unbeschwertheit“ in Kindheit und Jugend liegt für viele aktuell in weiter Ferne.
Doch nicht nur das. Fortschritte, die im Bereich der Bildungsgerechtigkeit gemacht wurden, scheinen durch die Pandemie wie fortgespült. Mehr denn je hing und hängt die Frage nach guter Bildung aktuell an der sozialen Herkunft. War es früher weniger ausschlaggebend für den Zugang zu Bildung, ob Kinder einen Laptop oder ein eigenes Zimmer zum konzentrierten Arbeiten haben oder ob die Eltern helfen können, neuen Stoff zu lernen, hat die Pandemie diese Faktoren zu ganz entscheidenden Fragen mutiert.
Begleiten und ermutigen
„Für viele unserer Schüler:innen ist die Situation dramatisch – und ich benutze dieses Wort nicht leichtfertig“, bestätigt Ulf Matysiak, der als geschäftsführender Gesellschafter von Teach First Deutschland die Lebensrealität vieler sozial benachteiligter Jugendlicher kennt. Die gemeinnützige Bildungsorganisation engagiert sich seit über zehn Jahren deutschlandweit an Brennpunktschulen, indem Schüler:innen Mentor:innen an die Seite gestellt werden. Über zwei Jahre begleiten sie die Jugendlichen auf ihrem Weg zum Schulabschluss. Sie motivieren, fördern und fordern ganz gezielt und so individuell, wie es das Schulsystem nicht leisten kann. Gerade jetzt zeigt sich, dass die „Fellows“ genannten Mentor:innen weit mehr als Nachhilfelehrer:innen sind.
Sie sprechen mit den Jugendlichen über Alltagssorgen, darüber, wie die Pandemie ihr Leben verändert hat, über ihre Zukunftsängste und geben Orientierung in unsicheren Zeiten. „In dieser Phase an der Seite der Kinder und Jugendlichen zu sein, sie nicht allein zu lassen, das ist viel wert. Das ist dann auch mal wichtiger als an der 5 in Mathe zu arbeiten“, sagt Matysiak, der selbst in einem Berliner Brennpunktbezirk aufgewachsen ist und die Probleme und Herausforderungen kennt.
Leisten kann Teach First Deutschland all das nur, indem die Fellows das Vertrauen ihrer Schützlinge gewinnen. „Wenn ich kein Vertrauen zu einer Schülerin habe und vor allem sie nicht zu mir, dann brauche ich mit ihr auch nicht über ihre Zukunftsträume zu sprechen. Wieso sollte sie mit mir darüber reden?“, bringt Matysiak es auf den Punkt. Eine Herausforderung – vor allem, weil gerade Jugendliche aus sozial benachteiligten Umfeldern schon in jungen Jahren viele Enttäuschungen und Misserfolge erleben mussten. Häufig so viele, dass die Fellows mit ihnen zunächst erarbeiten müssen, wie es sich anfühlt, Gestalter:in des eigenen Lebens zu sein. „Genau hier setzen wir an: Wir zeigen ihnen, dass sie genauso viel mitbringen und genauso erfolgreich sein können, wie jede und jeder andere auch“, sagt Matysiak. „Dafür müssen sie erleben, dass sie mit Beharrlichkeit und Zeit besser werden. Ich möchte nicht hören ‚ich kann Mathe nicht‘. Ich will hören ‚für Mathe brauche ich mehr Zeit‘. Und mit den ersten Erfolgen entwickeln Kinder und Jugendliche ein ganz neues Selbstbild.“
Neue Wege für eine neue Generation
Dieser Perspektivwechsel, der viel stärker die Schüler:innen und deren Bedürfnisse in den Mittelpunkt stellt, kann auch in der Pandemie ganz neue Denkanstöße und Lösungsansätze bringen. Doch gerade jetzt kommt er zu kurz, meint Matysiak. Ein Beispiel: Viele Bundesländer haben beschlossen, die Abschlussprüfung für den Mittleren Schulabschluss ausfallen zu lassen. „Das nimmt aber nur Druck vom System, nicht von den Jugendlichen“, erklärt er. „Für sie ist der Druck sogar höher, denn damit wiegt jetzt jede einzelne Note noch schwerer für den Abschluss.“ Wie würde aber eine Lösung aussehen, die sich daran orientiert, was die Jugendlichen brauchen? „Man könnte die Prüfung in einem begrenzten Zeitraum – auch in der Ferienzeit – so anbieten, dass die Jugendlichen flexibel einen Termin buchen können, wenn sie sich bereit fühlen. Das würde den Druck von ihren Schultern nehmen.“
Eine Last, die vor allem in Zeiten von Pandemie und Distanzunterricht umso schwerer wiegt, wenn persönliche Nähe und individuelle Unterstützung zu einer noch größeren Herausforderung für Schulen wird. Auch, weil sich das Bildungssystem schwer getan hat, auf digitale Lösungen umzusteigen. „Ich glaube nicht, dass wir den einen Schuldigen finden, auf den wir mit dem Finger zeigen können“, meint Matysiak. „Wir als gesamte Gesellschaft haben es zugelassen, dass die Digitalisierung der Schulen vernachlässigt wurde.“ Trotz des aktuell immer noch offenen Innovations- und Reformbedarfs des Schulwesens blickt Matysiak aber zuversichtlich in die Zukunft: „Ich setze große Hoffnungen auf diese Generation. Genauso wie beim Klimawandel wird sie nicht akzeptieren, dass alles so bleibt, wie es ist. Neulich hat mir ein Schüler erzählt: ‚Es ist so lustig, dass jetzt alle wollen, dass ich mein Handy für den Unterricht benutze. Bis vor einem Jahr habt ihr mir immer erzählt, dass ich das nicht mal mitbringen darf in die Schule.‘“